Im ersten und im zweiten Teil zu diesem Thema habe ich herausgearbeitet, dass mit dem Erlernen der Alphabetschrift auch fundamentale Strukturen im Denken angelegt werden und somit spaeter unsere Kreativitaet und Erkenntnisfaehigkeit beeinflusst wird. Nur wenige Menschen haben sich ueber dieses Thema ernsthafte Gedanken gemacht, noch weniger Menschen haben soziokulturelle oder paedagogische Aspekte unseres Alphabets, hinterfragt und nur einer, hat die Konsequenz daraus gezogen, eine neue Schrift zu entwickeln: Generalmajor a. D. Felix von Kunowski (geb.10.4.1868, gest. 1.12.1942) – er erfand die Sprechspur, kurz Spur genannt.

Ende des 19. Jahrhunderts traten die Gebrueder Kunowski [Felix und Albrecht (1864 – 1933)], mit einem eigenen Stenografiesystem, der Nationalstenografie, an die Oeffentlichkeit. Ihre Organisation – im stenografischen Sprachgebrauch Schule genannt – fand rasch Anhaenger und nahm um 1900 hinter den Systemen Gabelsberger und Stolze-Schrey den dritten Rang ein.

Schon 1895 hatten die Brüder von Kunowski ein grundlegendes systemtheoretisches Werk “Die Kurzschrift als Wissenschaft und Kunst” veroeffentlicht. Sie leiteten damit eine Periode der Stenographiewissenschaft ein, die sich auf alle Systeme auswirkte. Anfang der zwanziger Jahre baute Felix von Kunowski die Nationalstenografie zur INTERSTENO aus und ermöglichte damit Ihre Verwendung für alle anderen Sprachen. Als in dieser Zeit erfolgreiche Versuche mit dem Stenografieunterricht bei Kindern durchgefuehrt wurden, begann er, die Nationalstenografie auch dafuer gebrauchsfaehig zu machen. Unter dem Namen Wurzelschrift, seit 1942 Sprechspur, beschäftigte diese Schriftform im 20. Jahrhundert viele Wissenschaftler und Paedagogen.

Nachdem die Nationalstenografie nach Einfuehrung der Einheitskurzschrift im Jahre 1924 wie alle anderen Systeme einen staendigen Rückgang verzeichnete und seit 1933 auch ganz verboten war, bildeten sich die stenografischen Organisationen nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wieder neu. Für die Sprechspur wurde unter Leitung von Prof. Dr. Gottfried Rahn, Paedagoge an der Paedagogischen Hochschule in Hannover, der “Forschungskreis für die Sprechspur” gebildet, der auch eine eigene Zeitschrift “Sprechen und Spuren” herausgab. In diesem Rahmen haben unzaehlige Lehrer im Schulunterricht Versuche mit der Sprechspur gemacht und ihre Verwendung als erste Schrift propagiert. Die von ihnen erarbeiteten Forschungsmaterialien wurden in der sogenannten “Sammlung Rahn” erfasst, die zuletzt von der internationalen Sprechspurgesellschaft “Tutmonda Parolspuro Asocio” (Sitz Fribourg, Schweiz) betreut wurde.

Obwohl es also Paedagogen und Sprachwissenschaftler gab, die sich mit der Sprechspur beschaeftigten und waehrend der fuenfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts praktische Erfahrungen (vorwiegend im paedagogischen Bereich) sammelten, ist die Spur als Schrift praktisch ausgestorben. Einige Quellen machen hierfuer die Tatsache verantwortlich, dass Felix von Kunowski bereits kurz nach der Veroeffentlichung seiner Schrift 1942 im Alter von 74 Jahren starb, andere verweisen auf die introvertierten Strukturen der unterschiedlichen paedagogischen Schulen und nach dem zweiten Weltkrieg waren die meisten von ihnen mehr mit sich selbst beschaeftigt oder aber durch die Erfahrungen mit dem dritten Reich verunsichert, so dass diesbezuegliche Forschungen kaum ihren Weg in die Oeffentlichkeit fanden und eine Verbreitung der Ideen Kunowskis nie im grossen Stil propagiert wurde. Eine Folge hiervon war, dass die Sprechspur (obwohl auf mehrsprachigen Gebrauch ausgelegt und teilweise auch von Paedagogen in anderen Laendern aufgegriffen) nie ernsthaft ueber die Grenzen von Deutschland hinaus eine groessere Aufmerksamkeit fand – was mit dazu beitrug, dass die Schrift in Vergessenheit geriet. Darueber hinaus haftete der Sprechspur das oberflaechliche Image an, nur eine weitere Kruzschrift zu sein, die durch die mittlerweile standardisierte Stenographie obsolet geworden ist.

Letzteres Argument koennte jedoch falscher nicht sein. Insbesondere in Bezug auf die Schwierigkeiten, die Kinder beim Erlernen von Sprache und Schrift haben, muessen die Grenzen des lateinischen Alphabets beruecksichtigt werden und ein radikaler Wandel zu einem phonetisch konsistenterem Code gewagt werden.

Prof. Dr. Walter Schultze, ehem. Vorsitzender des Deutschen Instituts fuer Internationale Paedagogische Forschung in Frankfurt/M. und der von Prof. Dr. Gottfried Rahn in Hanover gegruendete “Forschungskreis fuer die Sprechspur” erkannten den Nutzen, den die Spurschrift in der Paedagogik zu bringen im Stande ist. Dr. Rahn war einer der fuehrenden Koepfe einer Forschungsgruppe und Mitherausgeber des Journals “Sprechen und Spuren”.

Ich habe hier noch eine Ausgabe dieses Journals (die Jubilaeumsausgabe zum 100. Geburtstag von Felix von Kunowski vom 15. Juni 1968):

Im naechsten Artikel werden den interessierten Lesern die Merkmale der Sprechspur erlaeutert.

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-m*sh-

  1. Frieling says:

    Dein Wissen ist beeindruckend, lieber Sha-Mash! Dennoch mag ich mich nur mit Grausen an Steno erinnern.

    Historisch soll übrigens Ciceros Sekretär Tullius Tiro die Kurzschrift erfunden haben. Gerade ist ein packend geschriebener historischer Roman zum Thema erschienen, der gerade diese Erfindung thematisiert:
    http://www.literaturzeitschrift.de/reviews/read.php5?search=bla&title=Imperium&page=detail&id=156

    Rupi

  2. Ich bin der interessierte Leser und wollte gerade danach fragen. Ist ja Lehrreich-TV hier, toll.

    • sha-mash says:

      ist in Arbeit, aber hin und wieder nehme ich auch am Real Life teil, oder will interessante Links lesen, so wie der von Rupi – oder Deine Heim-Fuer-tiere Site, die ich immer noch nicht angeschaut habe, weil ich zu nichts komme.

      -m*sh-

  3. Das von Ihnen im Text angeführte Heft von “Sprechen und Spuren” scheint mir nicht das im Bild gezeigte zu sein. Ich denke, Sie meinen im Text das Heft 1. des 19. Jahrgangs vom 15. März 1968, in dem sehr detailliert der Lebensweg des Felix von Kunowski und seine Auseinadersetzung mit Schrift und Kurzschrift beschrieben wird.

    Auf Wunsch könnte ich Ihnen ein eingelesenes Bild der Titelseite dieses Hefts, die Felix von Kunowskis Bild zeigt, zusenden..

    Dr. K. Erhard Wittmer.

    • sha-mash says:

      Leider habe ich nur noch dieses eine Exemplar von “Sprechen & Spuren” und wuerde mich selbstverstaendlich freuen, wenn Sie mir weitere Materialien zu dem Thema zusenden koennten.
      BTW, sind Die mit Artur Wittmer verwandt? Der hat mir naemlich die Sprechspur beigebracht?
      -m*sh-

  4. Dr. Heinz Schröder says:

    Ich bin 1950 eingeschult worden: kleine Dorfschule in 32699 Almena/Extertal, Kreis Lemgo und habe Sprechspur nach der “Fibel für das erste Schuljah” (Verlag Ferdinand Kamp Bochun) gelernt.
    Gern wüsste ich, auf wessen Initiative die Einführung der Sprechspur dort erfolgte und ob eine wissenschaftliche Begleitung/ Evaluierung stattfand.
    Wo kann ich Hinweise, Auskünfte erhalten? Bin dankbar für Hilfe!
    Dr. Heinz Schröder, Berlin

    • mash says:

      Hallo Heinz,
      vielen Dank fuer Dein Interesse, aber ich kann da leider nicht mehr weiterhelfen, da mir keine Quellen diesbezueglich zur Verfuegung stehen.
      Ich lebe auch nicht mehr in Deutschland und habe keine Kontakte mehr zu ehemaligen Sprechspur-Schreibern.