Im hinteren Muenstertal kurz bevor man ueber die Passhoehe nach Wieden kommt, erreicht man eine Abzweigung. Nach Sueden geht es zum ehemals heiligen Berg der keltischen Druiden, dem Belchen, und nach Osten in das – einst von einem Gletscher bedeckte – Wiesental. Mystisch mutet diese Gegend schon allein wegen der vielen Menhire an. Doch jetzt im Winter, wenn taeglich nur noch fuer wenige, kurze Stunden die schwachen Strahlen der Sonne ueber die naheliegenden Gipfel wandern, ist die Welt dort ein permanenter Daemmerzustand der Seele – Traumzeit.


Schwach leuchten die Lichter in den wenigen Haeusern der Bergbauern, die hier der rauhen Urgewalt der Natur ein Auskommen abtrotzen. Die Weiden sind steil und wo sie es nicht sind, erheben sich die maechtigen dunklen Fichten der Waelder, nach denen der Schwarzwald benannt ist. Wenn, so wie jetzt, das Vieh im Stall steht, die Arbeit an den Feldern getan und die Bauern froh sind, dass die Goetter heute keinen Sturm schicken, dann koennten die wenigen Bewohner des Stampfbachtals zufrieden vor ihren Kacheloefen sitzen, sich eine Pfeife anstecken und die Katze streicheln. Doch heute ist das Vieh unruhig – sehr unruhig.

Auch die Baeuerin macht sich Sorgen. Ihr Sohn Timotheus, kurz Tim genannt, ist vor vier Stunden zum Spielen nach draussen gegangen und nun fuerchtet sie, er koenne sich verlaufen haben. Bisher hatte sich der Neunjaehrige nie weit vom Hof entfernt. Nur im Sommer war er hin und wieder auf den Hochweiden und hat dem Knecht bei der Arbeit geholfen – doch bei Dunkelheit waren die schmalen, steilen Pfade selbst dann gefaehrlich, wenn sie nicht nass waren.

Schon vor einer Stunde war es dunkel geworden. Tims Augen hatten sich an die Dunkelheit gewoehnt, aber alles sah so veraendert aus. Kaum eine Stelle, die ihm bekannt vorkam. Er war sich sicher, dass er den richtigen Weg verloren hatte. Doch Tim wusste sich zu helfen – zumindest glaubte er das noch. Er lief dem Bachlauf folgend bergabwaerts. Es gab viele Baeche und wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass nichts hier in ihm eine Erinnerung hervorrief.

Vorsichtig setzte er an den steilen Stucken einen Fuss vor den anderen. Selbst im Dunkeln glaenzte die schwarze Oberflaeche der feuchten, grossen Steine unter seinen alten Stiefeln. Er war sicher, an einem der anderen – wenigen – Hoefe herauszukommen, wenn er dem Bachlauf folgte. Dort konnte er sich dann wieder orientieren oder einfach der Strasse folgend wieder den Berg hinauflaufen. Doch je laenger er lief, desto mehr Zweifel nagten an ihm.

Die Idee war zweifelsohne gut. Doch was, wenn dieser Bach neben ihm, irgendwo ganzwoanders endete. An einem Ort den er nicht kannte. Er schuettelte sich und versuchte diesen beaengstigenden Gedanken zu verscheuchen. Nein – das konnte fast nicht moeglich sein. Aber insgeheim musste er sich eingestehen, dass er nur wenig von der entfernten Umgebung kannte.
Frueher hatte man ihm immer Geschichten vom Baumgeist vom Stampfbach erzaehlt – um ihn davon abzuhalten, allzu weit vom Hof entfernt im Wald zu spielen. Aber das waren nur Geschichten. Ben, sein aelterer Bruder, hatte es ihm einmal gesagt.

‘Jetzt waere es schoen, wenn Ben da waere’, dachte er und erschrak im gleichen Moment, weil Bens Stimme direkt links vor ihm aus einem Baum zu dringen schien: “Hallo Tim!”

Tim riss die Augen weit auf und klapperte mit den Lidern. Da, jetzt konnte er etwas sehen. Ein Schwarzspecht sass dort am Baum und blickte ihn an. Tims Gedanken rasten. Hatte ihn der Schwarzspecht mit Bens Stimme angesprochen? Das konnte doch nicht sein. Aber er war auch sicher, sich nicht verhoert zu haben. Wuetend auf sich selbst stiess er die Luft aus, die er im ersten Schreckmoment angehalten hatte. ‘Ben will mir also einen Streich spielen’, dachte er und ueberlegte weiter. Sein Bruder versteckte sich sicherlich hinter dem Baum. Langsam, fast als wuerde er sich anschleichen, ging er weiter bis er den Baum erreichte.
Doch in dem Moment sprach der Schwarzspecht weiter: “Du solltest hier nicht weitergehen, Tim”

Tim pochte das Herz bis zum Hals waehrend er auf den Vogel mit dem schwarzen Gefieder und der roten Haube starrte. Er konnte es nicht fassen. Der Vogel sprach tatsaechlich zu ihm und seine innere Stimme gab dem Vogel recht: Dreh um. Geh’ zurueck. Du bist hier nicht auf dem richtigen Weg.

Doch Tim war kein Angsthase. Als der erste Schreck vorueber war schluckte er einmal kurz und fasste sich ein Herz: “Warum soll ich hier nicht weitergehen?” wollte er wissen.
Doch statt zu antworten, flog der Schwarzspecht einfach davon. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis Tim sich wieder gefasst hatte.
‘Das habe ich mir nur eingebildet’ dachte er und schuettelte den Kopf – so wie man die nassen Regentropfen aus den Haaren schuettelt, wollte er die unangenehme Erinnerung an den sprechenden, unheinlichen Vogel abschuetteln.
Doch kurz darauf sah er die Silhouette eines weiteren Spechts, vom Stamm eines juengeren Baumes abstehen.
“Du traust dich was”, stellte der Specht fest und flog ebenfalls davon, bevor Tim auch nur den Mund oeffnen konnt. Gerade noch erkannte er, dass es sich um einen Gruenspecht handelte.
Jetzt war sich der Bub sicher, dass die Voegel hier mit ihm sprachen. Es war auesserst merkwuerdig, auesserst dunkel und auch das Geraeusch des fliessenden Wassers neben ihm erschien ihm nun nicht mehr als unbedeutendes Gluckern und Plaetschern, sondern wie ein Chor aus vielen Stimmen, die den Wald fuellten: “N i ch ch ch t – G e n ae w l – N i ch ch ch t – G e n ae ch ch l”
Hatte das etwas zu bedeuten?
Tim war nun ein wenig verunsichert. Spielte ihm seine Phantasie etwa Streiche?
Erneut hielt er im Gehen inne und lauschte.
“N i ch ch ch t – N ae ch l – N i ch ch t – N ae ch e r – N i ch t N ae h e r”
Klar und deutlich sprach der Bach zu ihm.
Ein Schauder lief ueber seinen Ruecken. Ohne weiter nachzudenken drehte er sich um. Er musste zuruecklaufen. Blieb ihm eine andere Wahl? Der Wald hier aengstigte ihn.
Doch noch waehrend er den ersten Schritt tat, flogen zwei Spechte von einem Baum herab und stellten sich ihm in den Weg. Ein Schwarzspecht und ein Buntspecht.

“Warum kommst du in unser Revier?” Dieser Schwarzspecht hatte nun eine ganz andere Stimme. Diesmal war es nicht Bens Stimme, und dieses Mal fuehlte sich der arme Tim voellg hilflos und allein; sein Herz schlug ihm bis zum Hals und noch waehrend er gegen die Traenen kaempfte droehnte ein tiefer Bass hinter ihm:

“HOHO, WAS WILLST DU??”

Tim zuckte zusammen und fuhr herum. Hinter ihm stand ein baertiger Riese mit einem langen grauen Bart und kurzen verkrueppelten Armen – dafuer waren die Finger, und vor allem die Fingernaegel, um so laenger.
“Lass Dich anschau’n” erklaerte der Alte und ein weiterer grosser Vogel, den Tim nur als huschenden Schatten wahrnahm, liess ein Bueschel Zweige fallen, das der Alte mit einer geschickten Handbewegung auffing und entzuendete. Wie eine Fackel hielt er die brennenden Zweige nun zwischen sich und Tim, waehrend er den Jungen musterte.

“Wer .. wer sind sie”, stammelte Tim und dabei erschien ihm seine eigene Stimme fremd. Die beiden Voegel kicherten und tuschelten.
Der Alte blickte Tim unglaeubig an: “Wer ich bin?” polterte er. “Der Baumgeist vom Stampfbach – das bin ich. Du willst doch nicht etwa behaupten, dass Du noch nie von mir gehoert hast – oder?”

“Do .. doch”, antwortete Tim schnell und fuer einen sehr kurzen, einen winzig kleinen Augenblick hatte er Hoffnung. Die Hoffnung, dass sein Bruder Ben ihm nur einen Streich spielen wolle und diese ganze Maskerade nur inszeniert sei. Doch in diesem Moment sah er schon das Beil aufblitzen, das der Alte von irgendwoher gezogen hatte und danach wurde alles schwarz.


Die Voegel des Waldes stritten sich natuerlich um das Fleisch des Jungen, das ihnen der Alte ueberlassen hatte, nachdem er sich die besten Stuecke aus dem muskuloesen Koerper herausgeschnitten hatte. Mehrmals musste dieser die Voegel zur Ruhe ermahnen und bitten, nicht so laut zu schmatzen, was aber lediglich fuer kurze Zeit etwas brachte. Voegel erlernen naemlich die Menschensprache, indem sie Menschen fressen. Denkt mal darueber nach, wenn ihr mal wieder in eine Papageienshow geht.

Ach ja, bevor ich’s vergesse: Ben hat nur einen Scherz gemacht, als er zu Tim sagte, dass es den Baumgeist vom Stampfbach nicht gaebe. Natuerlich gibt es ihn – das weiss doch heutzutage jedes Kind.

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-m*sh- [fantasy inside]

  1. Schöne Geschichte, danke dafür.
    Meinen Kids kann das natürlich nicht passieren, die haben ja ihre Funkgeräte mit wenn sie in den Wald gehen. Aber wenn mich demnächst mal wieder einer meiner Papageien in die Finger beißt werde ich das hinterfragen, vielleicht auch mal ne Schüppe mehr füttern damit sie uns verschonen.

  2. sha-mash says:

    SCHOEN???!!!?? Schoene Gechichte?

    Wir fanden’s ziemlich grausam. Haben wir doch gestern dieses ganze Geschehen hilflos mit ansehen muessen, da uns der Baumgeist mit einem Zauber belegt hatte – zur Warnung an Alle!
    Ausserdem geht dort kein Funkgeraet – zumindest nicht sehr weit. Acuh GPS Empfang war gestern ganz schlecht – hochstens zur Grobnavigation geeignet. Hauptsache man hat genug Batterien fuer die Taschenlampen.
    -m*sh-

  3. Deleted says:

    Ein aufregender Anfang, ein Jähes Ende.
    Danke für diese Geschichte, heute nahm ich mir die Zeit sie zu lesen.
    LG: Bernhard

  4. Frieling says:

    Der Text erinnert mich stark an Rübezahl und ähnliche regionale Sagen

    Lieben Gruß
    Rupi